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Verfasst u.a. für die “Frankfurter Rundschau”; dort veröffentlicht am 19.01.2002

Kuckucksei im Nest der Gegenwart
Versuch einer Gebrauchsanleitung für das antike Athen

Die Wiege des Abendlandes und so. Wer in Athen ankommt, reist meistens gleich weiter. Auf eine Insel oder so. Allen Ernstes: Athen ist schwierig. Dem Parthenon fliegt abends das Dach davon. Wahrscheinlich hängt es mit den Säulen zusammen, die sich nach oben hin nicht nur verjüngen, sondern angeblich auch neigen. Nach innen nämlich. Aus der Entfernung kann man das besser sehen, besonders dann, wenn es gerade geregnet hat und die Abendsonne diffuses Licht verstreut. Das Dach hebt ab und schwebt über den Säulen.

Es kann passieren, dass dieser Anblick fesselt, ähnlich wie ein Vexierbild, das man so lange betrachtet, bis sich die Blickwinkel gegen einander verschieben. Wie meistens ist das alles eine Frage der Annäherung. Ein Regenbogen wäre jetzt gut, der das Phänomen endgültig in magische Welten entrücken und das Ganze zum Stillstand bringen würde. Aber es kommt gerade keiner, so dass die Umrisse des Tempels auch weiterhin verschwimmen, mal hierhin und mal dorthin driften, je nachdem, ob gerade die Sonne scheint oder Wolken vorübertreiben.

In Athen liegt die Vergangenheit ungefähr wie ein Kuckucksei im Nest der Gegenwart. Es ist auf jeden Fall da - groß und unübersehbar. Aber selbst Hephaistos müsste tüchtig schuften, um das heutige Athen gedanklich an der Stadt von einst festzuschmieden. Man könnte natürlich so tun als ob und einfach darüber hinweggehen, nur leider wäre das sehr ordinär. Athen aus erster Hand erfordert Geduld. Der Überraschungseffekt lässt am ehesten Funken sprühen. Also gilt es den Zufall heraufzubeschwören. Durch einen Wechsel des Standorts zum Beispiel oder der Geschwindigkeit, egal, ob schnell oder langsam. Alles in allem ist eine azyklische Bewegung in konzentrischen Ringen gefragt, die man möglichst konsequent durchhalten sollte, auch dann, wenn die Wege einsamer werden oder Zäune den Blick versperren. Kleine Müllkippen kommen dann schon mal vor.

Der Parthenon vom Hotel Titania aus ist ein Glücksfall: Wie ein Riegel, der die Stadt zum Himmel hin abschließt, zeichnet sich der Tempel von den blätternden Fassaden, den postmodernen Pfeilern, den Fensterfronten Monastirakis ab. Und wieder könnte man sagen, er schwebt. Vielleicht liegt es an der unendlich geraden Sockelzone, die so wenig auf dem Boden zu lasten scheint. Ohne zu lächeln gibt der Parthenon Rätsel auf wie die Mona Lisa. Währenddessen öffnet die Panepistimiou Straßenschluchten, fällt der Blick auf Werbeflächen, die ihre Lamellen im Minutentakt schwenken, auf Ampeln, die umschalten von Grün auf Rot und von Rot auf Grün. So gleichförmig, dass die Moderne plötzlich uralt aussieht und der antike Tempel zu strahlen beginnt.

Wer Kontakt mit Athen aufnehmen will, kann einen Kringel um den Akropolis-Hügel ziehen. Entlang der Verkehrsadern mit zungenbrecherischen Namen wie Amalias, Dionysíou Areopagítou, Apostolou Pavlou und Adrianou. In diesem Straßenlasso hätte man Pláka und Alte Agorá gleich mit eingefangen. Beulé-Tor, Parthenon und Erechtheion, das alles ist nichts für den ersten Tag. Man könnte es zunächst mit dem Zappeion an der Amalias versuchen, das einen Logenblick auf die Akropolis eröffnet. Im Vordergrund ragen die einsamen korinthischen Säulenreste des Olympiéions auf als wollten sie am Ruhm des Tempelbergs kratzen. Auf Parkbänken thronen gelangweilte Zappeion-Katzen mit eingeklappten Vorderpfoten und lassen den Duft gebratener Maroni an ihren Nasen vorbeiziehen. Das war wahrscheinlich schon immer so.

Das Dionysos-Theater an der Dionysíou Areopagítou bietet sich für ein geduldiges Puzzle mit den Archäologen an. Sie legen Gesteinsbrocken in rechteckige Beete oder käfigähnliche Behälter, so als würden sie darauf warten, dass sie von selbst wieder zusammenwachsen. Einstweilen wuchert hochroter Mohn in den Spalten, dazu winzige Malven, die ihre Zweige über den Boden spannen und das Chaos vernetzen: kannelierte Säulenschäfte im Querformat, in Sockel verwandelte Kapitelle, zerschmettertes Gebälk mit kopfüber gebleckten Zähnen. Es herrscht Stille, so als sei man sonstwo weit draussen auf der Peloponnes.

Nach oben hin sehen die Sitzreihen des Theaters aus als wären sie über Jahrhunderte hinweg im Schneckentempo explodiert. Gerillte Kalksteinblöcke, weit auseinander gedriftet, sprenkeln den Hang. Bestimmt könnte man sie wieder zurechtrücken, aber das wäre schade. Atemberaubend ist der Blick nach Piräus über weisse Häuserwaben hinweg zum Meer. Nach allen Richtungen durchpflügen Fähren das Wasser, so dass die Gischt am Heck im spitzen Winkel aufschäumt.

Dort, wo Dionysíou Areopagítou und Apostolou Pavlou zusammentreffen, zweigt rechts die Straße zur Akropolis ab. Links führt ein Weg zum Philopappos hinauf, vorbei am angeblichen Gefängnis des Sokrates. Die Höhle wirkt eher flach und wird von emsigen Japanern fotografiert. Von Überraschung hier keine Spur, und ein Schierlingsbecher ist auch nicht zu sehen. Oben auf dem Hügel tut sich die Akropolis gegenüber als gewaltiger Steinbruch auf. Propyläen, Nike-Tempel und natürlich der Parthenon, diesmal als gigantischer Quader, der kantigen Gesteinsbrocken entwächst. Auf dem Rücken des Philopappos zieht sich eine fast schon alpine Wanderlandschaft hin. Der Berg lässt sich genüsslich durchstreifen. Von der Hektik und dem Verkehrslärm der Stadt spürt man dort nichts.

Gut für Aha-Effekte ist auch die Metro. Weniger der reich gefüllten Vitrinen im Sperrengeschoss wegen, die den Untergrund mit ausgegrabenen Scherben und Erdschichten inszenieren. Gezeigt wird, was beim Bau der Metro so zum Vorschein kam. Man kann sich als Maulwurf fühlen und alles ein bisschen studieren. Flair verströmt Monastiraki im Norden des imaginären Straßenlassos, wo an der U-Bahn-Station die Häuschen zerfallen und ein Kran seinen Arm über der Hadriansbibliothek schwenkt. Spatzen tschilpen, und eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher lockt zu den Zügen.

Die G1 rattert los und verschwindet im Tunnel, wo es dunkel wird wie im Kino. Der Hauptfilm beginnt auf der anderen Seite. Mit Trümmerfeldern und Säulenschäften zieht dort die Alte Agorá vorbei als wäre sie soeben erst verlassen worden. Vor der Stoa des Attalos schiebt sich das Relief fragmentierter Körper aus zersprungenen Ecken und abgeschliffenen Kanten. Gestrandete Splitter - hier ein Faltenwurf, dort eine anmutige Rundung - fügen sich zum geschlossenen Ganzen. Während die Bahn weiter Richtung Piräus rauscht, ragen aus einem Saum zerschlissener Häuschen oben die Tempel heraus.

Zurück nach Monastiraki. "Wie kann man nur", möchte man beim Anblick der leuchtend weissen Marmorsäulen fragen, die seit kurzem die Hadriansbibliothek komplettieren. Womöglich werden bald reihenweise Kulissen geplant, bei denen ein Euro-Park Pate stand. Das Weiß der nagelneuen Säulen blendet direkt. An der Adrianou tun sich dann wieder hoffnungsfrohe Baugruben auf. Eingequetscht zwischen Wohnblocks gähnen antike Mauerreste, während auf den Balkonen ringsum die Wäsche flattert.

Wie selbstverständlich leben Vegangenes und die Gegenwart in Monastiraki aneinander vorbei. Die Ifestou, früher Sitz der Schmiede, ist heute mit Souvenir-Läden gespickt, in denen knallbunte T-Shirts, Modeschmuck und CDs feilgeboten werden. Gehämmer dringt nur aus Haus Nummer elf, wo man tatsächlich noch handgefertigte Pfannen, Töpfe und Weinkaraffen erstehen kann. Auf dem Trödel um die Ecke türmen sich auf den Ladeflächen zerbeulter Lieferwagen Berge von Hausrat: klassizistische Türklopfer, gewundene Kristallschalen, Hupen aus Kupfer und Messing, Bilder in reich verzierten Rahmen, dazu ausgemusterte Möbel und Bettgestelle. Und über all dem Chaos erhebt sich der Nordhang des Tempelbergs mit seinen beinahe ländlichen Wiesen.

Hinaufsteigen könnte man am zweiten Tag, und zwar am besten von Osten her. Dann nämlich würde das liebliche Gassengewirr in der Pláka den Fußgänger ganz von selbst höhertragen, vorbei an verlassenen Gärtchen und byzantinischen Kirchlein und bis dorthin, wo alles einmal begonnen hat. Mit dem Olivenbaum, versteht sich.

Service:

Hotels:
Andromeda Athens; 22, Timoleontos Vassou Str., Mavili Square, 115221 Athen; Tel.: 301-6437302-4; Fax: 301-6466361: kleinformatiges und luxuriöses Hide-away; freundlicher und unaufdringlicher Service.

Titania; 52, Panepistimiou, 10678 Athen; Tel.: 301-3300111: preiswertes Hotel der Mittelklasse; zentral gelegen und mit Gartenrestaurant auf dem Dach.

Essen & Trinken:
"Archaion" in Piräus nahe dem Yachtclub of Greece; 10, Epidavrou Str., Kastella; Tel.: 4138 617: Speisen wie im alten Griechenland; die ausgesprochen schmackhaften Gerichte werden nach Kochrezepten aus der Antike zubereitet; gut 100 Mark pro Person sind für ein Drei-Gänge-Menü à la Epikur zu bezahlen; Filiale in Athen: 22, Kodratou Str., Karaiskaki Sq.; Tel.: 5239661.

Filistron; Apostolou Pavlou 23: einfache, aber freundliche und preiswerte Taverne zu Füßen der Akropolis.

Plaka; Voulis 26: gut geführtes Restaurant, das sich vom kulinarischen Einerlei der Pláka abhebt; dort kann man auch noch frischen Fisch bekommen.

Oikeio; Ploutarhou 15; anspruchsvolle Taverne im Boschafterviertel Kolonaki, das mit internationalen Marken und ausgefallenen Designer-Läden zum Shoppen verlockt.

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