Verfasst für „Mittelbayerische Zeitung“ (14./15.02.2004), zuvor u. a. für „Frankfurter Rundschau“ (12.08.2000), „Tagesspiegel“ (26.08.2001) Die Todesküste am Ende der Welt Es heißt, in Galicien würde es nicht immer mit rechten Dingen zugehen. Vielleicht liegt es am Nebeltreiben oder an den zauberhaften Lichtspielen, vielleicht aber auch daran, dass sich die Wege entlang der Rías ungewohnt in die Länge ziehen. Das Festland mit seinen Flüssen und der Atlantik verbeißen sich fest in einander. Flussmündung oder Meeresarm? Selbst darüber ließe sich streiten. Die Rías, erodierte und vom Atlantik zusätzlich ausgespülte Mündungstrichter, schneiden ins Inland und verlängern die Wege um ein Vielfaches. Luftlinie und tatsächlich zurückzulegende Strecke stehen im krassen Missverhältnis. Orte tauchen urplötzlich auf, um wieder im Nichts zu verschwinden. Erst am Ziel angekommen, kann man sich ihrer sicher sein. Zwischenzeitlich hat der Weg tief hineingeführt in die Kerben, die süßes und salziges Wasser in die Erde gefressen haben, vorbei an Landzungen und Inseln, die den Überblick zusätzliche erschweren. Nur von den miradores aus, den Aussichtspunkten, lässt sich die reich gegliederte Landschaft überblicken. Wo der Fluss aufhört und das Meer beginnt – man könnte es vielleicht am Salzgehalt erschmecken. Kap Finisterre, der Brandung ausgesetzt und von Legenden umstrickt, bildet die Grenze zwischen den südlich gelegenen Rías Bajas und den Rías Altas weiter im Norden. Während die Rías Bajas mit ihren weiten Sandstränden und Reben bewachsenen Hängen eher sanft anmuten, schwingen sich die Rías Altas zu den 600 Meter hohen Steilwänden der Sierra de Capelada auf. Dazwischen liegt Kap Finisterre mit der hart zerklüfteten Costa de la Muerte, der Todesküste. Schon von den Römern wurde das Kap an der Westküste Galiciens Finis Terrae, Ende der Welt, genannt. Einst kamen die Pilger hierher, um am Strand eine Jakobsmuschel aufzulesen – als Beweis für ihre Ankunft am lang ersehnten Ziel. Einen Steinwurf entfernt ragt aus dem Atlantik noch ein einzelner Fels als dunkler Schlusspunkt auf, jenseits davon ist kein Land mehr in Sicht. Rund um den einsamen Felsen im Meer bilden Boote kleine Punkte. Im Laufe des Tages verschwinden sie allmählich, um im vier Kilometer entfernten Fischerdorf Finisterre ihre Fänge anzulanden. Häuser mit vorgehängten Glasgalerien säumen dort die Mole, weiter drüben schließen Hafenbehörde und Markthalle an. Auf dem Wasser schunkeln Nussschalen wie Fatima, Valencia und Chispas, während an Land Tamara und Hidra, den Kiel himmelwärts gekippt, zum Verkauf stehen. Vormittags ist es ruhig in Finisterre. Wer nicht draußen ist auf See ordnet Netze oder knüpft Haken an kurze Leinen. Geselligkeit und Arbeit gehen Hand in Hand. Das Kreischen einer Motorsäge zerschneidet die angespannte Stille, dann wieder sind nur die spitzen Schreie der Möven zu hören. Zwei Männer ziehen Haufen scheinbar unentwirrbarer Netze ins Boot. Die linke Hand, dann die rechte, wechseln sich ab. Das Schlussstück wird rasch noch entheddert, dann füllen die Gespinste zwei große Kästen am Heck. Es beginnt zu nieseln. Langsam tuckert das Schiff aus dem Hafen, hinterlässt Dieselgeruch, verschwindet in Richtung Kap. Auf verschlungenen Pfaden führt die Landstraße in Richtung Kap Vilán und bei Ponte do Porto weiter nördlich nach Santa Mariña. Von der hoch aufgeworfenen Düne oberhalb des Dorfes aus lässt sich die reizvolle, aber schwer zugängliche Playa de Trece gut überblicken. Der für die Rías typische Wechsel von feinem Sand und Fels prägt den Strand. Allerdings reißen bedrohlich spitz aufragende Granitnadeln die Gischt in Fetzen. Zu Bildern sommerlicher Badeszenen bequemt sich die Fantasie an diesem Ort nur unter Mühen und die Vorstellung, dass an der Costa de la Muerte Tausende unerlöster Seelen herumirren könnten, legt sich als schwerer Alpdruck über die Landschaft. 1890 kam allein bei einem einzigen Schiffsunglück die 300 Mann starke Besatzung eines englischen Schulseglers um. Von der Havarie der „Prestige“ im Winter 2002 waren die lieblicheren Rías Bajas im Süden stärker betroffen als die Rías Altas im Norden. Tag und Nacht errichteten damals Fischer schwimmende Barrieren gegen das Öl. Freiwillige Helfer aus ganz Spanien reisten an, um die Strände von der schwarzen Flut zu reinigen. Inzwischen ist wieder Ruhe eingekehrt. Auf der Halbinsel A Toxa in der muschelreichen Ría de Arousa etwa, wo sich traditionsgemäß die Schickeria vergnügt, oder in Sanxenxo, auch Marbella Galiciens genannt. Sacht pulsierendes Zentrum der Rías Bajas aber ist Pontevedra. Wie in fast jeder anderen historisch gewachsenen Stadt Galiciens, und sei sie noch so klein, lohnt es sich, bis ins Zentrum vorzudringen. Dort säumen meist trutzige, mit Wappen geschmückte Adelspaläste (pazos) und die obligate Barockkirche beschauliche Plätze. Marise, die im nahen Tenorio ein herrlich gelegenes Landhaus vermietet, schließt im Provinzmuseum von Pontevedra die Türen zu einem als Schiffsbauch aufgemachten schummrigen Raum. Sie wiegt sich in den Hüften und versetzt der Öllampe einen Stups, so dass der Lichtschein an Wänden und Decke kreist. Das bloße Hinsehen macht schon schwindlig. So muss es gewesen sein, als die in Pontevedra gezimmerte und deshalb ursprünglich "La Gallega" genannte Karavelle Santa María die schützende Ría verließ, um mit Kolumbus an Bord in See zu stechen. So zumindest erzählen es die Gallegos, die sogar den Geburtsort des berühmten Entdeckers nach Pontevedra verlegen. Fest steht, dass sich die Kunde von der Entdeckung der Neuen Welt von Galicien aus über den alten Kontinent verbreitete, denn in Baiona landete am 1. März 1493 die Karavelle „La Pinta“. Rías Bajas, Rías Altas, Costa de la Muerte. Küste der Seefahrer, Küste der Entdecker und – nach wie vor – Küste der Fischer. Abends um zehn sortieren und verwiegen die Männer in Finisterre seit Stunden den Fang. Der Reichtum der Fischgründe wird in Zahlenkolonnen vermerkt, in Ziffern festgehalten – Leben, verwandelt in Ware und plötzlich von unterschiedlichem Wert. Die Arme der Pulpos in Plastikkisten tasten ins Leere, rote Riesenkrabben schwenken ihre Scheren. Insgesamt rund vier Tonnen werden an einem durchschnittlichen Tag angelandet. Weit mehr als 20 verschiedene Sorten allein bei den Fischen, darunter die schweren Körper von Steinbutt, Seeteufel und Rochen. Ihre ernsten Minen mit den tief nach unten gezogenen Mundwinkeln wirken wie ein fernes Echo aus der Urzeit. Ebenso geheimnisvoll schimmern die Farben auf ihrer Haut. Den Männern an der Waage steht die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. Wie lange das noch so geht? "No hay horario", es gibt keinen Zeitplan, lautet die knappe Antwort. Längst schweifen die Scheinwerfer des Leuchtturms über die Bucht, und noch sind draußen Lichter zu sehen. Kurz vor Mitternacht endlich ist es so weit. Der auf Eis gelegte und sortenrein in Kisten verpackte Fisch ist fertig zum Abtransport. Nach Madrid, nach Barcelona und per Schiff auf die Balearen. |