Amberg und "Maria Schnee"
Verewigte Hubmann-Wirtschaft
Reichtum an Nuancen im Buch
Seit mehr als 20 Jahren schon spukt Hermann durch die Amberger Löffelgasse alias „Entengasse“. Das macht aber nichts, denn die Hauptfigur in Eckhard Henscheids Erzählung „Maria Schnee“ steht dem Wesen der Dinge näher als dem Zeitgeist. So gesehen ist Hermann ein Klassiker. Als Leser droht man in diesem Charakter zu versinken. Meisterlich schmatzend, so, wie man in einen Sumpf gerät und nicht mehr heraus, sorgt der Erzähler dafür, dass sich der Leser mit Hermann anzufreunden beginnt, und zwar gaaanz langsam.
Hermann ist ein schräger Charakter. Kaum hat er sich bei Hubmeiers einquartiert, tut er so, als sei er nicht als Gast bei den Wirtsleuten, sondern fest angestellt. Irgendwie glaubt er sich ihnen verpflichtet. Aber warum eigentlich? Schließlich ist er nicht bloß Gast, sondern zahlender Gast. Trotzdem beschäftigt er sich über weite Strecken ausschließlich damit, es jedem recht zu machen. Was will der eigentlich, fragt man sich. Unverbindlichkeit ist schließlich das Gebot der Stunde.
Im Übrigen versucht Hermann einen Zipfel Geborgenheit zu erhaschen, sei es im Streicheln einer molligen Katze oder im Schlaf unter freiem Himmel am Kirchlein Maria Schnee, geschützt nur von einem Johannisbeerstrauch. Aus lauter Verlegenheit (Hilfsbereitschaft?) erwirbt er ein Kleinkind, dessen Verlust er ebenso rasch verschmerzt. Ist Hermann also doch ein bisschen unverbindlich? Über weite Strecken jedenfalls hilft er sich selbst. Vielleicht ist es das, was ihn letztlich sympathisch macht. Erst aus der wieder gewonnenen Entfernung, der wieder gewonnenen Distanz, entfaltet die vielschichtige Figur ihre Wirkung.
Zäh walzt sich der Erzählfluss im Büchlein dahin. Aber ebenso zäh setzt sich die Hauptfigur Hermann in der Erinnerung fest. Nach Jahren kennt man ihn immer noch nicht. Zum Beispiel übertrifft er Leute wie Hans Schnier aus Bölls „Ansichten eines Clowns“ bei Weitem an Geheimnis. Es ist dies die eigentliche Leistung des Autors Eckhard Henscheid.
In der Löffelgasse, genauer gesagt, zwischen Walfischhaus und einstiger Hubmann-Wirtschaft, begann der literarische Rundgang mit Eckhard Henscheid, dem „Erfinder“ Hermanns. Den Teilnehmern stand die Freude über das erneute Treffen ins Gesicht geschrieben, brauchte man sich der Liebe zur Literatur doch einmal mehr nicht einsam und im stillen Kämmerlein zu widmen, sondern durfte sich ganz öffentlich dazu bekennen. Wer „Maria Schnee“ gelesen hatte, kam in den Genuss, ziemlich genau vertraut zu sein mit jedem Mauervorsprung, von dem im Buch die Rede ist. Auf der Brücke am Jungfernschanzl aus dem Mund des Autors zu hören, wie sich ein Amberger Original – „Antnantn“ - im Buch mit den Enten unterhält, rief denn auch allgemeines Schmunzeln hervor. (Wanderung mit Eckhard Henscheid im Juli 2005)
Die Atmosphäre im Wirtshaus, aufgeladen und bleischwer lastend zugleich, sorgt dafür, dass die Zeit im Buch langsam verrinnt. Gedehnt wirkt sie durch die akribische Beschreibung kleinster Nebensächlichkeiten. Das Erzählen scheint zeitgleich mit der erzählten Handlung abzulaufen und genauso lang zu dauern. Man möchte aufatmen, wenn Hermann seinen Spaziergang antritt. Angesichts der Schwüle ist es eigentlich ein Wunder, dass ein Gewitter ausbleibt. Aber nein, Hermann hätte ja sonst unter freiem Himmel nicht nächtigen können. Er hätte sein Mäuschen nicht gefunden und wäre von dem morgendlichen Hund nicht geweckt worden. Vermutlich hätte er brav im angemieteten Zimmer genächtigt. So aber bleibt dieses leer.
Aus dieser und ähnlichen Begebenheiten, die vom Alltäglichen jeweils nur eine Hand breit abweichen, gewinnt das Büchlein seinen eigenwilligen Reiz. Da ist der omnipräsente „Blaue“, eine Art Blockwart, der Hermann nachhaltig verschreckt. Da ist der Altkommunist mit Verfolgungswahn als trinkfreudiger Gesprächspartner am Wirtshaustisch. Da ist die junge Mutter wider Willen, die Hermann ihr Kind nur allzu gern abtritt. Ihnen allen begegnet die Hauptfigur mit so viel Gleichmut wie nur irgend möglich. Am Ende verlässt Hermann die Vilsstadt wieder und hat trotz mancher Verwicklung keinerlei Schaden genommen.
Eckhard Henscheid jedenfalls steht hinter seiner Figur. Dass Hermann labil sei, könne er wirklich nicht finden, auch eigentlich kein schwammiger Charakter. Allenfalls unfertig, stimmt er fast widerstrebend zu. Henscheids Prosa gefällt sich in einer Kultur des „auch“, das den Dingen trotz oder wegen aller Akribie gern einen Weichzeichner verpasst. Vielleicht deshalb, weil man ihnen dadurch eher gerecht zu werden verspricht als durch den harten Kontrast des richtig oder falsch, des schwarz oder weiß, schlicht: des so und nicht anders seins.