Exkurs:
Dani Karavan in Portbou
„Passagen“
Auf den ersten Blick hat der Ferienort an der nördlichen Costa Brava wenig zu bieten. Die beiden Hotels sind während der Sommermonate schnell ausgebucht, und kulinarische Köstlichkeiten, die einen Geheimtipp lohnen würden, sucht man vergebens. Links in der Bucht führt ein schmaler Pfad über die Klippen hinaus zum offenen Meer, vorbei an einer gemauerten Bank unter Pinien. Von dort kann man den Friedhof sehen. Terrassenförmig schmiegt er sich an den gegenüber liegenden Hang wie eine große, weiße Skulptur mit regelmäßig angeordneten Waben.
"Es ist bei weitem eine der phantastischsten und schönsten Stellen, die ich je in meinem Leben gesehen", schrieb Hannah Arendt. Sie suchte das Grab Walter Benjamins, der sich am 26. September 1940 in Portbou das Leben genommen hat. Der deutsche Philosoph jüdischer Abstammung teilte das Schicksal mehrerer Zehntausend Exilsuchender, die zunächst nach Frankreich emigriert waren, um den Nazis zu entkommen. Als sich die Vichy-Regierung nach dem Waffenstillstandsabkommen im Juni 1940 zur Kollaboration mit den Deutschen bereit erklärte, versuchten sich viele Flüchtlinge nach Spanien durchzuschlagen. Ein Faltblatt der Touristeninformation verzeichnet den Weg Walter Benjamins durch die Pyrenäen, den er, schwer herzkrank, nur dank der engagierten Fluchthelferin Lisa Fittko bewältigte. Umsonst, wie sich bei seiner Ankunft in Portbou herausstellte, denn kurz zuvor war eine Direktive aus Madrid eingetroffen, die für die Einreise nach Spanien ein französisches Ausreisevisum vorschrieb.
Für die Einwohner von Portbou war Benjamin zunächst nur einer von vielen: Der Totenschein wurde versehentlich auf den Namen Benjamin Walter ausgestellt und der Leichnam im christlichen Teil des Friedhofs beigesetzt. Fünf Jahre später verschwanden seine sterblichen Reste in einem Kollektivgrab. Erst nach dem Ende der Franco-Ära begann man sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen: 1979 brachte die Gemeinde an der Friedhofsmauer eine Tafel an, die an den Philosophen erinnert, wenig später folgte ein Gedenkstein.
Als ein 1989 initiiertes deutsches Projekt zu einem Mahnmal aus Kostengründen zu scheitern drohte, sprangen neben den Bundesländern kurzerhand die katalanische Regierung und die Gemeinde Portbou ein. 1994 - zwei Jahre nach dem 100. Geburtstag von Walter Benjamin - konnte die Arbeit des Bildhauers Dani Karavan eingeweiht werden. Mit dem in Frankreich lebenden Israeli wählte man einen Künstler von internationalem Rang, dessen Engagement auch politisch motiviert ist. 1999 wurde er in Weimar mit einer der fünf Medaillen ausgezeichnet, die das Goethe-Institut an Persönlichkeiten aus den Ländern Europas und des Nahen Ostens verleiht.
Das Environment in Portbou, für das Karavan in Anlehnung an das gleichnamige Werk von Walter Benjamin den Titel „Passagen“ wählte, setzt sich aus mehreren abstrakten Formen zusammen, die über sich hinausweisen auf die Natur, so dass sich ein enges Geflecht von Bezugspunkten ergibt. Von weitem ist nur ein schräger, von Stahlplatten gefasster Stollen zu erkennen, der die Böschung unterhalb des Friedhofs durchbricht. Wenn man dagegen direkt davorsteht, entpuppt sich das Monument als begehbarer Korridor. Nur in der ersten Hälfte überdacht, entfaltet er eine Sogwirkung, die den Blick aus der Dunkelheit in die lichte Tiefe zieht, wo sich die Wellen an den Felsen brechen. Eine Glasscheibe am unteren Ende trennt den Betrachter von seinem Gegenstand, dem Meer, das dadurch eine noch stärkere Anziehungskraft ausübt und eine metaphysische Dimension jenseits von Zeit und Raum zu eröffnen scheint.
Dani Karavan wollte die besondere Atmosphäre Portbous hervorheben: "Hier erzählt das Meer die ganze Tragödie eines Mannes. Ich muss die Leute nur dazu bringen, das zu sehen."
In einem Tal zu Füßen der katalanischen Pyrenäen gelegen, war Portbou schon immer ein Nadelöhr. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde eine Eisenbahnlinie eröffnet, die den Ort zu einem internationalen Verkehrsknotenpunkt machte. Anlässlich der zweiten Weltausstellung in Barcelona erbaute man 1929 den heutigen Bahnhof. Die elegante Eisenskelettkonstruktion mit einem Dach von Gustave Eiffel wirkt ein wenig überdimensioniert. Zusammen mit den Gleisanlagen trennt sie die verwinkelten Gassen am Hang von den Bergen. In seinem grandiosen Roman "Die Stadt der Wunder" beschreibt Eduardo Mendoza die Entwicklung Barcelonas zwischen den beiden Weltausstellungen. Zu Portbou heißt es lapidar: "Dort mußten alle Reisenden aus- und in einen anderen Zug umsteigen, denn die Spurweite in Frankreich ist nicht dieselbe wie in Spanien". Bevor man auch für dieses Problem eine technische Lösung gefunden hatte, wurde das Gepäck durch die weitläufigen Hallen des Bahnhofs getragen. Man überschritt eine Grenze und war sich dessen bewusst. Damals wurden in Portbou zahllose Ein- und Ausreisegenehmigungen erteilt oder verweigert, regelten Zollbeamte den Warenaustausch und wichtige Firmen den reibungsfreien Ablauf ihrer Geschäfte. Von jener glänzenden Epoche zeugen die prächtigen, hier und da über den Hang verstreuten Villen im Stil der Jahrhundertwende. Heute ist Portbou für den Personenverkehr nur noch Durchgangsstation. Die Grenze, an der Walter Benjamin 1940 verzweifelte, gibt es nicht mehr.