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Der Autor...
Wilhelm Genazino
"Mittelmäßiges Heimweh"

Wilhelm Genazino hebt sich auch mit „Mittelmäßiges Heimweh“ von der oft mittelmäßigen deutschen Befindlichkeitsprosa ab. Zwar befasst sich der Erfolgsautor in seinen Büchern fast ausschließlich mit weitschweifiger Selbstreflexion. Doch gelingt es ihm immer, den Bogen hin zum Kollektiv zu schlagen. Jenseits einer egozentrischen Grundhaltung entwirft der Erzähler komplexe Sinnzusammenhänge und Wahrnehmungsmuster, wie sie sich uns angesichts einer schon wieder obsolet gewordenen Postpostmoderne präsentieren: Klein ist der Mensch, und eigentlich könnte und sollte er davon wissen.
Bei der Lesung im Literaturarchiv Ende Januar stellte Genazino sein neues Werk vor. Die Brüchigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen ist diesmal Thema. Typisch für Genazino: Es wird in seiner Banalität und in seiner Tragik gleichermaßen abgehandelt, in seiner ganzen Haar sträubenden Bandbreite also. Ein bisschen fühlt man sich an den "Grünen Heinrich" von Gottfried Keller erinnert. Diese literarische Gestalt tastet sich zwar im 19. Jahrhundert, aber unter ähnlichen Vorzeichen durchs Leben. Angesprochen auf die Verwandtschaft zu Keller, bekennt der Autor, behaftet mit ordentlichem Understatement: "Das rührt mich jetzt direkt." Sein Text wirkt, vorgetragen mit eben diesem Understatement, noch absurder als er es ohnehin schon ist. Man sollte dem Buch also möglichst bald eine Audioversion folgen lassen.


Zum Inhalt:
Ein im wahrsten Sinne des Wortes heillos scheinendes Gefühlsleben, das sich nur unter Mühen und nur vorübergehend zur Ruhe bringen lässt, hat neuerdings auch die Ehe von Dieter Rotmund erfasst. Er ist bei einem Pharmaunternehmen angestellt und pendelt zwischen seinem Arbeitsplatz und dem Wohnort von Frau und Tochter im Schwarzwald. Schritt für Schritt entfremden sich die Eheleute. Daran ändert auch die berufliche Beförderung Rotmunds nichts, die im Hinblick auf die doppelte Haushaltsführung zumindest finanzielle Erleichterung bringt. Nachgestellt wird dieser Prozess in winzigen Details, die nur oberflächlich betrachtet nebensächlich sind, und gerade durch ihre Nebensächlichkeit trotz der tragischen Handlung zum Lachen reizen.
Wie eine Staubschicht hat sich der Alltag auf der Beziehung abgesetzt, langsam, unmerklich, so dass es eigentlich schon zu spät ist, als Rotmund es merkt. Wie fremd sich das Paar trotz institutionalisierter Beziehung in Form einer Ehe (wieder) geworden ist, drückt der Ich-Erzähler in Rotmunds Gedanken aus: „Ich müsste, um Edith unmittelbar zu gefallen, noch vor dem Abendbrot duschen, frische Unterwäsche, ein anderes Hemd und eine andere Hose anziehen. Ich traue mich nicht, Edith zu sagen, daß ich mich fast eineinhalb Stunden lang im Dienst allgemeiner Kostenersparnis stehend in der Nähe einer Zugtoilette herumgetrieben habe und daß ich im Augenblick nur erschöpft und müde bin.“
Das Kind Sabine kann die Ehe nicht retten. Dabei würde es mit seiner unvoreingenommenen Freude an gemeinsamen Unternehmungen (wie etwa einem Ausflug mit Picknick) durchaus einen Ansatzpunkt liefern: „Mein Gott, wie schön könnte alles sein! Sabine und ich sind hungrig. Wir stürzen uns mit einem kleinen Geheul auf die Decke.“ Aber: „Inmitten der leuchtenden Natur liegt das Problempaket Frau und schläft. Der Satz ist keineswegs übertrieben.“ Zwischendurch gewinnt die Neugier und das Interesse an der Vogelwelt die Oberhand, etwa angesichts einer Bachstelze: „Wenn ich mich recht erinnere, heißt der Vogel Bachstelze, aber ich bin mir nicht sicher.“ Später wird sich Rotmund ein Bestimmungsbuch für Vögel kaufen. Bruchstücke eines normalen Lebens scheinen da auf, die im krassen Kontrast stehen zur Katastrophe, dem schmerzlichen Niedergang der Partnerschaft.
Dabei sehnt sich der Mann nach Geborgenheit und hätte bis vor kurzem nicht im Entferntesten daran gedacht, dass auch ihm das peinliche "Versagen" einer Ehescheidung unterlaufen könnte. Wie hilflos er ist, drückt sich in einem geradezu surrealen Vorgang aus: Er verliert zunächst in der Kneipe ein Ohr, später im Schwimmbad einen kleinen Zeh. Es lässt sich nicht mehr verheimlichen, dass ihm sein Leben entgleitet. Gerade diese rein körperlichen Vorgänge drücken der Geschichte den Stempel des Unumkehrbaren auf.
Angesichts virtueller Lebenswelten, wie sie sich vor allem im Internet auf dem Vormarsch befinden, setzt das Motiv des fehlenden Ohrs ein gewichtiges Zeichen der Endlichkeit, ein fast schon wieder beruhigendes Signal menschlichen Begrenztseins, das Halt gibt in der Physis, im körperlichen Dasein samt allen Sinneswahrnehmungen. Sie allein ermöglichen es der Hauptfigur, sich in die neue Situation hineinzufinden. Tief traurige und dabei zum Schreien komische Überlegungen fließen in die Trauerarbeit Rotmunds ein, etwa wenn er den Teppichboden in seinem Büro prüft: „Du gehst hier gleich zu Boden und heulst deine Tränen in den Teppichboden. Tatsächlich schaue ich mir hinterher den Teppichboden an und mache mir Gedanken, ob er all meine Tränen aufnehmen könnte. Ich beuge mich sogar nieder, teste mit den Händen die Weichheit des Bodens und denke: Die Tränensaugkraft ist ausreichend. Über das Wort Tränensaugkraft muß ich aus dem Nichts heraus kichern und errege damit die Aufmerksamkeit der Kollegen (...).“
Befremdlich ist, dass die Außenwelt Rotmunds Verstümmelungen ignoriert. Er selbst setzt sich zwar in immer neuen Variationen mit dem Verlust seines Ohr auseinander: „Zufällig fasse ich mir an die Stelle, wo früher mein Ohr war, und schluchze. Mein Schicksal zwingt mich, über mein Leben nachzudenken, das ist so ziemlich das Übelste, was einem zustoßen kann.“ Nur die Geliebte Sonja, die sich bald einstellt, fragt nach dem Verbleib des Ohrs. Mit ihr verbringt Rotmund, der sich bereits als allein stehend empfindet, relativ unbeschwerte Stunden. Allerdings verschwindet auch die keineswegs intakte Sonja bald wieder aus Rotmunds Leben. Da beginnt Edith zurückzurudern...

Hanser Verlag, 189 S., Euro 17,90
Anmerkung: Unlust an der Rechtschreibreform kann unter Umständen dann aufkommen, wenn ein eigenmächtiges Korrekturprogramm ein „daß“ automatisch korrigiert. Gibt man nachträglich ein „ß“ ein, erfreut ein rot unterringeltes Wort auf dem Bildschirm das Herz. „Mittelmäßiges Heimweh“ von Wilhelm Genazino ist in alter Rechtschreibung erschienen.

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Der Autor...
Wilhelm Genazino

...und sein Verleger
Michael Krüger