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Lesender Erzähler - erzählender Leser: Dževad Karahasan im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg.

Erinnerung im Fokus der Weltreligionen
Mitgefühl als erlösendes Moment

Es sind Wechselbäder, denen sich Simon Mihailovic in seiner bosnischen Heimatstadt Foça bei seiner Rückkehr ausgesetzt sieht. Nach 25 Jahren Deutschland sucht er dort die Wärme seiner Kindheit. Es ist ein Bild, das ihn hinführt, eigentlich nur eine Irritation. Ein Jahr lang sucht sie ihn heim, bis seine Frau Barbara die Geduld verliert und ihn losschickt.
Zu Beginn stellt sie sich wie durch ein Wunder ein, jene Wärme, die Simons Inneres noch immer zu umfangen scheint. Am Morgen nach der Ankunft jubiliert seine Seele und er glaubt sich sicher: „Voller Selbstvertrauen und Freude ging er den Berg Tabija hinab, in der Gewissheit, daß die Stadt ihn wiedererkennen und aufnehmen würde, denn es liegt in der Natur des Eis, alles aufzunehmen und zu umfangen.“ Er, der die Welt mit einer weichen, saftigen Pflaume vergleicht, stellt fest, „daß auch Foça wie eine Pflaume sei“.
Man meint den Schmelz des sommerlichen Jugoslawien zu spüren wie man ihn vielleicht noch aus der eigenen Kindheit kennt – von Reisen in Titos Urlaubsland, in dem alles so nett und preisgünstig war. Aber Simon macht keinen Urlaub, und das wird nur allzu schnell klar. Er merkt es an den Reaktionen der Leute, die ihm auf seinem Weg hinunter nach Foça begegnen. Er kennt sie und ihre Sitten gut genug, um feststellen zu können, dass sie sich nicht normal verhalten. Und dann ist es raus: Zuhra Cengiç wurde ermordet, und zwar akkurat in der Nacht zuvor, genau jener Nacht also, in der Simon ankam. Und es passieren noch weitere Morde.
Für seinen früheren Lehrer, den serbischen Polizeichef Mirko Landeka, ist dieses zufällige Zusammentreffen Grund genug, ihn zu verdächtigen, zumal Simon noch nie so ganz auf seiner Linie lag – damals nicht, als er fand, Simon nehme den Sportunterricht nicht ernst genug, heute, weil er glaubt, Simon sei in die Fänge hedonistischer Beliebigkeit geraten. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, das weniger der Aufklärung dient als den Begehrlichkeiten eines ideologieverhafteten Machtspiels.

„Wie leicht ökonomische Probleme jedoch in irrationale enthnonationalistische Strömungen umleitbar sind, zeigt ein weiteres gefährliches Strukturmerkmal Jugoslawiens: Die ethnisch heterogenen Gebiete zeichnen sich in der Regel durch besonders starke wirtschaftliche Rückständigkeit aus. (...). Der slowenische und kroatische Nationalismus resultiert nicht zuletzt aus aktuellen Motiven der Besitzstandswahrung.“
Aus: Michael Kalman, „Der Jugoslawienkonflikt: friedenswissenschaftliche Interventionen“, Arbeitspapier des Instituts für Internationale Politik, Nr. 023, Oktober 1993;
ferner: Ulrich Albrecht, Sabine Riedel, Michael Kalman, „Das Kosovo-Dilemma“, Westfälisches Dampfboot 2002; ferner: die Bücher von Wolfgang Libal zum Jugoslawien-Konflikt und Bassam Tibi zum Islam.


Bei alledem wird deutlich, dass in Simons Heimatstadt neue Regeln gelten. Von der einstigen Geborgenheit ist nichts mehr zu spüren. Die kleine Welt ist aus den Fugen, bereits vor dem Krieg. Es ist ein Kunstgriff, dass Karahasan die Handlung auf den Sommer 1991 legt und die Vorbedingungen für die Katastrophe auslotet. Sogar das selbstgenügsame Ehepaar Ibrahim und Nusreta Pleh ist entzweit, weil man sich nicht einigen kann, ob man die Stadt angesichts des sich anbahnenden Unheils verlassen soll. 1991, sagt Ibrahim, werde ein Schicksalsjahr sein für die bosnischen Muslime – so hatte es sein Vater prophezeit.
Geschichten spielen in dieser Weissagung eine Rolle wie sie eine Mischung aus den „Märchen von 1001 Nacht“, aus Bibel und Koran hervorbringt. Märchenhaftes, daneben tief Religiöses verbinden sich zu einer Art Sage mit romantischer Prägung. Dieser Eindruck verstärkt sich durch den grandiosen Erzählfluss. Beim Lesen ist Karahasan ganz Erzähler. Vor seinem inneren Auge scheinen die Bilder, über die er spricht, lebendig zu werden. Oft richtet er den Blick rasch ins Publikum, um dann ebenso rasch wieder ins Buch und dessen Welten einzutauchen.
Simon meint immer wieder an sein früheres Leben in Foça anknüpfen zu können, immer wieder folgt die kalte Dusche, wird er enttäuscht. Hier die Schönheit der Stadt, der Landschaft, dort die „menschlichen“ Machenschaften. Hier die Flüsse Drina und Cehotina, an die sich Kindheitserinnerungen knüpfen, dort die Haar sträubenden Ereignisse, in die Simon verwickelt wird und in denen sich das kommende Unheil des Krieges ankündigt. Das Einzige, was Simon Halt gibt, ist seine Liebe zu Barbara. Zu spät erkennt Simon, dass sie die Ehekrise nur herbeigeredet haben.
Aus dem Wechselspiel von Wunsch und Realität gewinnt der Roman seine Kraft. Zunächst scheint es so, als könne die Hauptfigur die Balance halten, die Ereignisse sensibel wahrzunehmen, sich ihnen aber nicht masochistisch auszuliefern. Doch zunehmend verschiebt sich das innere Gleichgewicht. In der Begegnung mit seinem einstmals besten Freund Enver schließt sich der Kreis. Zu diesem Zeitpunkt traut der Leser dem Frieden schon nicht mehr. Wird Simon abermals enttäuscht? Solche und ähnliche Fragen stellt man sich, während er seinem Freund von Barbara erzählt. Meisterhaft versteht sich Karahasan auf den psychologischen Effekt. Denn auch diesmal kippt die heitere Stimmung: Während sich Simon mit Enver zu unterhalten meint, weilt dieser schon gar nicht mehr unter den Lebenden.
Enver ist es schließlich, der Simon hinabführt ins Totenreich, das sich als unnatürliche Kälte im Haus bereits seit seiner Ankunft im Elternhaus angedeutet hat. Es ist der Keller im eigenen Haus, in dem ihm die grausam entstellten Opfer gegenüber treten. Stellvertretend stehen sie für die Massaker, die im Lauf der Jahrhunderte an den bosnischen Muslimen verübt wurden. Bis 1876 reicht die Erinnerung zurück. Für jede Jahreszahl steht ein Schicksal.
Sie auf ebenso grausame Weise zu erlösen, wie ihm Enver nahe legt, bringt Simon nicht über sich. Sein eigenes Leben der Erinnerung zu opfern, mit den herumirrenden Toten zu leben und ihnen Trost zu spenden, scheint ihm die bessere Lösung. Erinnerung und Transzendenz verschmelzen auf diesem Weg jenseits der Religionen.


Der Autor und sein Buch
Die eigene Vergangenheit verstehen

Erinnerung im Fokus der Weltreligionen
Über "Der nächtliche Rat"